Gesellschaftliche Spaltungen im und durch den Film. Verhandlungen über soziale Desintegration und Entsolidarisierung

Gesellschaftliche Spaltungen im und durch den Film. Verhandlungen über soziale Desintegration und Entsolidarisierung

Veranstalter
AG Filmsoziologie
PLZ
37073
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Findet statt
Digital
Vom - Bis
30.04.2024 -
Deadline
30.04.2024
Von
Jan Weckwerth, Institut für Soziologie, Universität Göttingen

Gesucht werden Beiträge für einen Sammelband mit o.g. Titel. Hierbei soll es vor allem um zwei grundlegende Dimensionen zu Spaltungen gehen: Erstens der Film als Motor oder Katalysator sozialer Spaltungen (etwa im Sinne von forcierter Polarisierungen oder Progadanda), zweitens der Film über soziale Spaltungen (etwa über soziale Konflikte, Ungleichheiten, Protest, soziale Bewegungen etc.).

Gesellschaftliche Spaltungen im und durch den Film. Verhandlungen über soziale Desintegration und Entsolidarisierung

In jüngerer Zeit ist in der Soziologie sowie insbesondere in öffentlichen und medialen Debatten schnell – oder vorschnell – von neuartigen, zunehmenden oder besonders vehement hervortretenden sozialen Spaltungen und Spaltungsprozessen spätmoderner kapitalistischer Gesellschaften die Rede. Diese Diagnose umfasst Phänomene verschiedener gesellschaftlicher Provenienz, die unter einer Vielzahl von Begriffen firmieren (Cleavages, Konfliktlinien, Lagerbildung etc.): So scheinen Identitäts- und Differenzkonstruktionen sowie alltagskulturelle Klüfte in politischen Fragen an Definitionsmacht zu gewinnen. Zumindest werden explizit wie offensiv postulierte Spaltungen sicht- und hörbarer, vorgeblich befeuert durch die Struktur und Dynamik der sozialen Medien. Zudem erzeugt der politische Umgang mit gesellschaftlichen Krisen sichtbare Reaktanzen, die längst in der gesellschaftlichen Mitte angekommen sind bzw. dort tiefer verankert wurden: sei es bezüglich der Pandemie, der Migration oder des Klimawandels – und ganz allgemein: in der verstärkten, mitunter reflexhaften Infragestellung offizieller Verlautbarungen und wissenschaftlicher Erkenntnisse, kulminierend in Begriffen wie alternative facts oder fake news bis hin zu Verschwörungserzählungen. Viele führen vor diesem Hintergrund auch das Erstarken des Rechtspopulismus an – ebenso wie die Entstehung und Etablierung von Akteurskonstellationen und -bündnissen entlang veränderter gesellschaftlicher Achsen, was etwa in Schlagworten wie dem „libertären Autoritarismus“ (Amlinger/Nachtwey) anklingt.

Aber ist es wirklich so ungewöhnlich, dass Spaltungen stärker in den Fokus gerückt werden als sozialer Zusammenhalt? Und ist die postulierte gespaltene Gesellschaft nicht doch ‚nur‘ eine polarisierte Gesellschaft (Kaube/Kieserling), in welcher bereits bestehende Differenzen lediglich distinktiver oder gar lustvoller inszeniert werden?

Nach einer filmsoziologischen Perspektive auf derartige Phänomene müssten filmische Produkte – ob Spielfilm, Dokumentarfilm, Fernsehserie oder allgemein Bewegtbilder – nicht nur grundsätzlich als Quelle der empirischen Sozialforschung ins Zentrum gerückt werden, sondern darüber hinaus auch als performatives Zeugnis zeitgenössischer Zustände, die es aufzunehmen und auf deren Wandel es zu reagieren gilt. In diesem Sinne wäre zu prüfen, inwiefern sich aus filmischen Artefakten Aufschlüsse über zeitgenössische wie historische Verhandlungen von Spaltungsnarrativen gewinnen lassen, ob und inwiefern aber auch etwaige ‚Lösungsangebote‘ unterbreitet werden.

Für eine Konzeptualisierung des Begriffs der sozialen Spaltung im Hinblick auf Film wäre zunächst zwischen zwei grundlegenden Dimensionen zu unterscheiden:

1) Der Film als Motor oder Katalysator sozialer Spaltungen, also diejenigen filmischen Produkte, die Spaltungen induzieren oder vertiefen (sollen). Hieran knüpft die Frage nach dem Polarisierungspotenzial des Mediums an: Propaganda kann schließlich ebenso dazu dienen, Menschen oder Gruppen zu einen wie Menschen oder Gruppen identitär zu adressieren und gegeneinander in Stellung zu bringen.

2) Der Film über soziale Spaltungen, also diejenigen filmischen Produkte, die Spaltungen thematisieren. Hierunter fallen Filme, in denen Spaltungen als zentrale Plotelemente fungieren (bspw. Filme über soziale Ungleichheit, Protestbewegungen, Aufstände, Revolutionen) oder in denen innerhalb der Narration von Figuren, Konstellationen oder Settings prominent auf Spaltungen in der Filmgesellschaft – und damit mittelbar auch in ‚unseren‘ Gesellschaften – rekurriert wird.

Unter Zugrundelegung von filmsoziologisch geeigneten Theorien und Methoden suchen wir nach Beiträgen zu insbesondere (aber nicht nur) folgenden gegenstandsbezogenen Fragen:
- Gibt es empirische bzw. historisch sich herleitende Evidenzen für soziale Polarisierungen durch Film(e)?
- Lassen sich filmische Problematisierungen oder Dekonstruktionen von Spaltungen auffinden? Existieren Gegenbewegungen, die soziale Kohäsion und Zusammenhalt – und damit kollektive Identitätsnarrative – herausstellen?
- Inwiefern sind die Bereiche filmischer Produktion und Rezeption im Hinblick auf Spaltungserzählungen aufeinander zu beziehen?
- Vor welchen narrativen und stilistischen Herausforderungen stehen filmische Produkte, die sich der Thematisierung von sozialen Spaltungen verschreiben? Was verraten unterschiedliche Spaltungsverhandlungen (synchron wie diachron) über gesellschaftliche Zustände?
- Ob und inwiefern werden aktuelle Spaltungsnarrative, die entlang von Konfliktlinien wie Migration, Klimakrise, Pandemie, Krieg, Armut o.ä. verlaufen, filmisch aufgegriffen und verarbeitet?
- Welche Subjekt- und Gesellschaftsbilder liegen spezifischen Spaltungsnarrativen zugrunde?

Abstracts zum Konzept des geplanten Beitrags (ca. 1-2 Seiten) sind bis zum 30.04.2024 zu richten an:
Jan Weckwerth (Universität Göttingen): jan.weckwerth@uni-goettingen.de
Oliver Dimbath (Universität Koblenz): dimbath@uni-koblenz.de

Der Sammelband schließt an die Vorträge und Diskussionen im Rahmen der 9. Tagung der AG Filmsoziologie in der Sektion Medien- und Kommunikationssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) an der Universität Göttingen an und wird im Verlag Springer VS in der Reihe „Film und Bewegtbild in Kultur und Gesellschaft“ erscheinen.

Die ausgewählten Beiträge werden in ausgearbeiteter Form voraussichtlich Ende November 2024 erwartet. Für Rückfragen stehen wir gerne zur Verfügung

Kontakt

jan.weckwerth@uni-goettingen.de